Der 19-jährige NVA-Soldat Rudi Siegmund flüchtet am 5. Mai 1971 während seines Wachdienstes in den Westen. Im Gespräch mit seiner Tochter Julia erwachen die Erinnerungen.
Es ist bereits tief in der Nacht. Der Grenzsoldat der Nationalen Volksarmee (NVA) Rudi Siegmund patrouilliert gemeinsam mit einem Kollegen am Waldrand nahe Grumbach im heutigen Bundesland Thüringen. Die Kälte kriecht dem 19-Jährigen erbarmungslos in die Knochen. Da hilft es auch wenig, dass er sich für seinen Wachdienst gleich zwei Uniformen übergezogen hat. Bis auf die Schritte der jungen Männer und das Rauschen der Blätter ist alles still, fast harmonisch. Rudi Siegmund nimmt all seinen Mut zusammen. Er greift zu seiner Waffe und lädt die Kalaschnikow durch.
Während mein Vater Rudi Siegmund mir seine dramatische Flucht aus der DDR vom 5. Mai 1971 schildert, runzle ich nachdenklich die Stirn. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sind Szenen wie diese für mich kaum mehr vorstellbar. Beobachtungstürme, Kontrollstreifen oder gar Minen? So etwas habe ich in Deutschland nie miterleben müssen. Auf einem kleinen Stapel vor uns liegt eine Schwarzweiß-Fotografie. Sie zeigt einen jungen Mann in Uniform und Kappe. Es ist mein Vater, der Grenzsoldat. Der Mann, der die Grenze doch selbst so gerne überwinden wollte.
Antreten, marschieren, Waffe putzen, Meldung machen. „Das Leben in der Kaserne hat mir von Anfang an gestunken“, sagt Rudi Siegmund. Als Sohn eines Landwirts in dem kleinen Örtchen Barigau im Landkreis Rudolstadt geboren, war er es schon von klein auf gewohnt, jede freie Minute in der Natur zu verbringen. Auch auf dem Acker wurde fleißig mitgeholfen. „Das Anspannen der Kühe oder das Auflesen von Kartoffeln waren für mich eine Selbstverständlichkeit.“ Die berufliche Zukunft schien gesichert. „Es war immer mein Traum, den Hof meiner Eltern später einmal weiterzuführen“, erzählt er. Doch dieser Wunsch sollte aufgrund der in der DDR üblichen Kollektivierung zu sogenannten Landwirtschaftlichen Produktionsgesellschaften (LPG) nicht in Erfüllung gehen. „Stattdessen wurde ich zum Zerspanungsfacharbeiter ausgebildet“, erzählt der heutige Schwäbisch Haller. Den Beruf habe er sich nicht selbst ausgesucht. Ebenso wenig wie den Wehrdienst, der auf die Lehre folgte.
Zum Wehrdienst in die Nationale Volksarmee eingezogen
Mit einem LKW sei er am 4. Mai 1970 zur Kaserne gebracht worden. „Von diesem Tag an war alles Private passé“, sagt er. Erst kurz zuvor stand er noch mit seiner Band, den „Telestars“, auf der Bühne. Doch anstatt eines Keyboards waren nun Stahlhelm, Sturmgepäck und Kalaschnikow angesagt. Durch das harte Training, das zahlreiche Laufeinheiten und viele Schussübungen beinhaltete, sollten die jungen Männer für ihren Dienst an der Grenze gestählt werden. „Für mich war es nach einem halben Jahr Grundausbildung soweit“, erinnert sich Rudi Siegmund. Er wurde in die Grenzkompanie Brennersgrün und damit in die unmittelbare Nähe der Demarkationslinie in Richtung Bayern versetzt.
„Wenn wir Streifendienst hatten, mussten wir acht Stunden lang auf den Postenwegen patrouillieren“, beschreibt er. Winzige Verschläge dienten als Unterkunft, wenn die Soldaten aufpassten, dass sich niemand der Grenze näherte. „Das Dickicht am Rande des Thüringer Waldes wurde großflächig abgeholzt“, berichtet er. Eine Lichtstraße bot zusätzliche Sicht. „Manche Stellen wurden strengstens bewacht“, sagt Siegmund. Andere wiederum so gut wie gar nicht. „Als ich gesehen habe, wie nah der Westen tatsächlich ist und wie es im Grenzgebiet zugeht, begann ich mit dem Gedanken an eine Flucht zu spielen.“ Von der Bundesrepublik versprach sich Rudi Siegmund bessere berufliche Perspektiven. Die Arbeit als Zerspanungsfacharbeiter kam für ihn nicht mehr in Frage.
Ich bin mehr als einmal verpfiffen worden.
Rudi Siegmund
Auch die Bespitzelungen durch die Stasi und deren Befürworter hätten zu seiner Entscheidung beigetragen. „Ich bin mehr als einmal verpfiffen worden“, sagt er. Mitunter sogar in Brennersgrün. „Die Wachdienste waren meist sehr langweilig“, sagt er. „Darum habe ich mir von zu Hause ein kleines russisches Radio schicken lassen.“ Mit diesem hätten sich die Wehrdienstleistenden unterwegs sehr gerne die Zeit vertrieben. Der Apparat konnte auch westdeutsche Sender empfangen. „Doch schon kurz darauf wurde mein Spind durchsucht“, erzählt er. Ein Politoffizier habe dabei betont, dass er von dem Radio wisse. „Gefunden haben sie es zwar nicht“, sagt Rudi Siegmund. Dennoch habe er es im Anschluss zurück nach Hause gesendet. Von diesem Ereignis noch angefeuert, keimte der Gedanke an die Flucht in ihm von Woche zu Woche mehr. „Irgendwann konnte ich nur noch daran denken“, unterstreicht er.
Eine günstige Gelegenheit ergab sich an jenem 5. Mai. „Es war ein Tag wie jeder andere“, sagt er heute. „Die Stelle am Waldrand bei Grumbach hatte ich mir vorher schon ausgeguckt.“ Zudem schob sich Rudi Siegmund vor Dienstbeginn alle seine Fotos, ein paar Zigaretten, seinen Dienstausweis und etwas Geld in die Hosentasche. „Nervös war ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht“, meint er. Dies änderte sich allerdings schlagartig, als er die Waffe unterwegs mit einer ruckartigen Bewegung rasch entsicherte.
Am 5. Mai 1971 entwaffnet Rudi Siegmund seinen Kollegen
Adrenalin durchfährt den jungen Soldaten, als er die kalte Kalaschnikow so fest wie möglich umklammert hält. Obgleich er die Waffe nicht auf seinen Kollegen richtet, reagiert dieser zutiefst erschrocken. „Mach doch keinen Scheiß!“, stammelt er als er den Blick unverwandt auf Rudi Siegmund gehaftet hält. „Leg deine Waffe auf den Boden und geh ein paar Schritte dort rüber!“, befiehlt dieser. Der Zweite tut wie ihm geheißen. Mutiger als er sich fühlt, entfernt Siegmund das Schloss der Kalaschnikow. Macht diese unbrauchbar. „Möchtest du mit mir kommen?“, fragt er beinahe hoffnungsvoll. Doch der Andere verneint. So ruhig, wie es seine aufgewühlten Nerven zulassen, dreht sich Rudi Siegmund um und geht. Die tiefschwarze Nacht verschluckt ihn binnen Sekunden. Er weiß, die Grenze ist nicht weit. Die Sterne am Himmelszelt und das Plätschern eines Baches dienen ihm als Orientierung. Ein Ast knackt unter seinen Füßen. Wird er verfolgt? Werden sie ihn zurückholen? Vorsichtshalber behält der 19-Jährige einen Schuss im Lauf. Auch dann noch, als er den Stacheldrahtzaun und die tatsächliche Demarkationslinie längst hinter sich gelassen hat.
„Im Westen bin ich auf eine Straße geraten“, erzählt mein Vater. Diese führte ihn in die bayerische Gemeinde Tschirn, wo er der Nacht zum Trotz noch ein brennendes Licht im Fenster einer Kneipe erblickte. „Erst als mir der Wirt die Türe öffnete, fiel die Angst endlich von mir ab“, sagt er. Und mit einer unscheinbaren Bewegung sicherte er die Kalaschnikow zum allerletzten Mal.