Die DDR inszenierte sich als egalitärer, gesellschaftlich fortschrittlicher Staat. Doch gleiche Rechte galten längst nicht für alle. Ursula Sillge und Bettina Dziggel kämpften für Anerkennung und Gleichberechtigung – und forderten den Staat heraus. Über zwei Frauen, die im Selbstverständnis der DDR nicht vorgesehen waren.
In der sächsischen Provinz der 1970er Jahre: Bettina Dziggel knattert mit dem Moped über Landstraßen, tanzt in Discos, verliebt sich. Auf den ersten Blick eine Teenagerin wie jede*r andere. Aber für sie steht fest: „Ich will nicht so leben wie alle. Das war für mich ein Horror.“ So leben wie alle, das bedeutet zeitig heiraten, Kinder bekommen, ein Leben lang bleiben im sächsischen Dorf. Ein Lebensentwurf, in dem Frauen keinen Platz haben, die ihr Glück ganz sicher nicht in einer heteronormativen Ehe finden wollen und würden. Lange Zeit habe sie gar nicht gewusst, dass sie lesbisch ist, erzählt Bettina Dziggel: „Es gab ja keine Worte dafür.“
Ein ungewöhnlicher Weg
Ein paar hundert Kilometer entfernt und einige Jahre früher wächst Ursula Sillge in einem Dorf in Thüringen auf. „Ich wurde im Pfarrhaus geboren, zwischen Knast und Kirche. Ist das nicht symbolisch?“ In ihrem Umfeld ist es so gut wie unmöglich, an Informationen über Homosexualität zu kommen. Nicht nur, weil das in den 1960er und 70er Jahren in der DDR kaum Thema ist. Sondern auch, weil von manchen Zeitschriften nur ein Abo für das ganze Dorf zu haben ist, wie Ursula Sillge erzählt. Über all dem schwebt der Gedanke, womöglich die Einzige zu sein, der es so geht.
Wie findet man sich selbst, wenn es keine Worte für das eigene Ich gibt? Wenn man nicht vorkommt im offiziellen Gesellschaftsentwurf?
Ich wollte, dass Lesben und Schwule ganz normale Bürger sein dürfen und nicht Oppositionelle .
Ursula Sillge
Nach dem ersten unerwiderten Verliebtsein wählt Ursula Sillge einen ungewöhnlichen Weg: „Ich bin zur Ehe- und Sexualberatung gegangen und habe gesagt, dass ich eine Freundin suche.“ Die beratende Ärztin reagiert mit Schock, Verwunderung und medizinischem Interesse. Ein Psychologe rät ihr, eine Anzeige für eine Brieffreundschaft in die Wochenpost zu setzen und nicht zu schreiben, welches Geschlecht sie suche. „Ich habe dann 40 Briefe von Männern bekommen und drei von Frauen. Und so hatte ich einen Faden, an dem ich ziehen konnte.“
Diesen Faden zu finden, war lebenswichtig. „Es war einfach nur furchtbar“, erinnert sich Bettina Dziggel an ihre Jugend im sächsischen Dorf. „Man war immer auf der Suche. Mal hast du es vergessen, und dann war es wieder präsent, dass es nicht für dich stimmt. Du hast niemanden, den du ansprechen kannst. Und dann wird es elend.“ Auch Bettina Dziggel steht einmal vor der Tür eines Arztes. Sie betritt die Praxis nicht. Dennoch: „Ich wollte die Vereinsamung durchbrechen.“ Wie Ursula Sillge zieht sie deshalb nach Ostberlin.
Freiräume schaffen

Beide Frauen hätten dort mit ihren Freundinnen in relativer Ruhe zusammenleben können. Allerdings nicht offen lesbisch. „Du konntest nicht sagen: Hier habe ich ein Recht darauf“, fasst Bettina Dziggel die Situation für Lesben und Schwule zusammen. Wenn ein homophober Hausbuchverwalter das lesbische Pärchen nicht akzeptierte, hatte es in seinem Wohnblock keine Chance, eine Wohnung zu bekommen. Es wäre ein Leben im Versteck gewesen. „Aber das hat mir nicht gereicht. So bin ich nicht erzogen“, sagt Ursula Sillge.
Beide Frauen gründen Gruppen, in denen sich lesbische Frauen* treffen, vernetzen und politisch aktiv werden können. „Ich wollte einen Anlaufpunkt, damit die Leute wissen, wo sie hingehen können, wenn sie im Coming Out stecken. Das ist eine kritische Phase“, sagt Ursula Sillge. 1987 gründet sie den Sonntags-Club mit, der bis heute existiert. Bis zur Vereinsgründung 1990 blieb er eine informelle Gruppe aus Lesben und Schwulen, denn von FDJ bis Gesundheitsministerium wollte niemand dem Sonntags-Club ein Dach geben, was für einen Verein notwendig war. „Mir wurde mindestens ein Dutzend Mal gesagt, ich könne das doch alles bei der Kirche machen. Das wollte ich aber nicht. Ich wollte, dass Lesben und Schwule ganz normale Bürger sein dürfen und nicht Oppositionelle“, betont Ursula Sillge.
Diskriminierung per Gesetz
Auf den ersten Blick war die rechtliche Situation für Lesben und Schwule in der DDR besser als in der Bundesrepublik. 1968 wurde der Paragraph 175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellt, aus dem Strafgesetzbuch der DDR entfernt. In der BRD hielt man bis 1969 an der im Nationalsozialismus verschärften Form fest, erst 1994 wurde das Gesetz schließlich abgeschafft. Allerdings bedeutete die Streichung des Paragraphen 175 aus dem DDR-Strafgesetzbuch keineswegs eine Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen. Das Gesetz wurde 1968 vielmehr durch ein anderes ersetzt: Der neue Paragraph 151 verbot zwar gleichgeschlechtliche Kontakte nicht mehr per se, setzte aber das Schutzalter für homosexuelle Handlungen sowohl zwischen Männern als auch zwischen Frauen auf 18 Jahre herauf. 1988 wurde der Paragraph gestrichen, das Schutzalter lag in der DDR nun einheitlich bei 16 Jahren.
Bettina Dziggel sieht das etwas anders: Sie politisiert sich Anfang der 1980er Jahre in der Friedensbewegung und gründet mit Freund*innen die dezidiert oppositionelle Gruppe „Arbeitskreis homosexuelle Selbsthilfe – Lesben in der Kirche“. Religiös waren die Frauen* zwar nicht, aber „es ging uns darum, Freiräume zu schaffen. Fortschrittliche Pastoren und Gemeindekirchenräte haben ihre Pforten geöffnet“, erklärt Dziggel. Ab 1984 treffen sich jeden zweiten Donnerstag dutzende Frauen* in der Gethsemane-Kirche in Berlin-Prenzlauer Berg zu Gesprächsrunden und Veranstaltungen.
Eine Gruppe kann wie ein Schutzschild sein. Sie gibt Identität, schirmt ab, ermutigt. Sie gibt Halt. Und den brauchen die Frauen*. „Ich selbst habe mich nicht so recht als Oppositionelle verstanden. Aber wir haben uns nicht weggeduckt, wir waren selbstbewusst“, sagt Ursula Sillge. Eine Frau, die sich mit anderen Frauen trifft. Um sich auszutauschen, Freundschaften zu schließen, vielleicht mehr. Aus Sicht der Sicherheitsbehörden ist Ursula Sillge eine Bedrohung für den Staat. Gut 15 inoffizielle Mitarbeiter*innen hatte die Stasi auf sie angesetzt, erfährt Ursula Sillge beim Lesen ihrer Akte nach der Wende.
Die Stasi streut ein Gerücht
Als Sillge 1978 das erste landesweite Treffen für Lesben in der DDR organisiert, wird sie von der Polizei vorgeladen. Einen Tag lang wird sie verhört, stundenlang in eine fensterlose Kammer gesperrt. „Da habe ich die ganze Zeit die Sputnik gelesen. Und dann habe ich den Genossen von der Kriminalpolizei erklärt, was schwul, lesbisch und homosexuell bedeutet“, erzählt sie mit einem Schmunzeln. Als sie in den Folgejahren trotz Überwachungsmaßnahmen und Verhören ihr Engagement nicht einstellt, greift das System zu anderen Mitteln.

Um sie zu diskreditieren, streut die Stasi das Gerücht, Sillge sei selbst als inoffizielle Mitarbeiterin tätig. Manche glauben diese Lüge. Das belastet die 73-Jährige noch heute, auch wenn es nie einen Beweis gab und über ihre Geschichte online auf den Seiten der Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen berichtet wird. „Von 1982 bis zur Wende wurde ich nirgends mehr eingestellt“, berichtet Sillge. Einmal sagt man ihr ganz offen, dass man sie gern genommen hätte, aber nicht dürfe. Schließlich putzt sie in Berlin-Rummelsburg Züge: „Von irgendwas muss der Schornstein ja rauchen.“
Verhindertes Gedenken
Dass die Frauen* von „Lesben in der Kirche“ von der Stasi überwacht wurden, sei allen klar gewesen, berichtet auch Bettina Dziggel. „Du kannst dich damit verrückt machen oder eben nicht. Vielleicht werde ich verhaftet – na und? Ich mach mich doch nicht wegen so ein paar Jungs verrückt“, sagt Dziggel. „Ansonsten hatten wir nicht allzu viele Widerstände.“ Außer bei dieser einen Sache, damals 1984.
Die Gruppe will die Verfolgung von Lesben während des Nationalsozialismus aufarbeiten. Dazu gibt es keine Informationen in der DDR. „Wir wussten damals nicht, ob auf Grundlage des §175 auch Lesben verfolgt wurden, aber unser Prinzip war: Da, wo Frauen sind, sind auch Lesben.“ Deshalb fährt die Frauengruppe 1984 ins Konzentrationslager Ravensbrück. Sie legen einen Kranz nieder, tragen sich ins Besucherbuch ein. Doch beides wird schnell wieder entfernt.
Zum 40. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers fahren die Frauen* erneut nach Ravensbrück. Wieder mit einem Kranz, im selben Blumenladen bestellt. Doch dieses Mal erfährt die Polizei davon. „Schon am S-Bahnhof Schönhauser Allee haben uns zwei Herren empfangen. Sie begleiteten uns, auch beim Umsteigen. Auf dem Bahnhof in Fürstenberg haben sie dann eine Ausweiskontrolle gemacht, nur bei uns elf Frauen“, erinnert sich Bettina Dziggel. „Dann haben sie uns auf einen Lkw geladen und durch Fürstenberg gefahren. Dann durch den Wald.“
Vielleicht werde ich verhaftet – na und? Ich mach mich doch nicht wegen so ein paar Jungs verrückt .
Bettina Dziggel
Männer in Zivil kommen hinzu, die Frauen* werden einzeln verhört. Mehrere Stunden dauert das Prozedere insgesamt, am Ende müssen sie zurück nach Berlin fahren, ohne die Gedenkstätte betreten zu können. „Das hat bei allen einen ganz massiven Bruch hinterlassen.“ Einige Frauen* stellen daraufhin einen Ausreiseantrag. Bettina Dziggel fährt erst nach der Wende noch einmal zum Gedenken nach Ravensbrück.
Im November 1989 löst sich die Gruppe „Lesben in der Kirche“ auf. „Es war sozusagen geschafft“, sagt Bettina Dziggel. Der Staat, der all jene zu Oppositionellen machte, die gleichberechtigt leben wollten, war gescheitert. Doch obwohl es nun Zugang gab zu Büchern, Filmen, Kunst und die Freiheit, sich zu versammeln, Vereine zu gründen: Eine Gesellschaft, in der sie gleichberechtigt und ohne Diskriminierung leben können, finden die beiden Frauen auch in der BRD nicht vor.

Ursula Sillge und Bettina Dziggel können dutzende Geschichten erzählen: von Menschen, die ihnen nicht die Hand geben wollen. Die sie ignorieren. Die nicht mit ihnen gemeinsam im gleichen Straßenbahnabteil fahren wollen. Die ankündigen, alles zu tun, um ihrer Karriere zu schaden. Die den eigenen Töchtern verbieten, ein Praktikum bei ihnen zu machen. Und in der Gedenkstätte Ravensbrück gibt es noch immer kein Mahnmal für lesbische Frauen, auch wenn die Diskussion darum längst nicht verstummt ist.
Ursula Sillge ist zurück nach Thüringen gegangen. In Meiningen leitet sie mit ihrer Lebenspartnerin ein Hostel, das dazu da ist, um die laufenden Kosten zu decken. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem Lila Archiv, das sie 1991 gegründet haben. Es versammelt Literatur und Dokumente zur Frauen- und Lesbenbewegung mit einem Fokus auf die DDR.
Bettina Dziggel ist in Berlin geblieben. „Ich denke darüber nach, wieder eine Gruppe zu gründen.“ „Lesben gegen Gewalt“ könnte sie heißen. In den vergangenen Jahren hat die Zahl der homophoben Gewalttaten wieder zugenommen, geht aus Zahlen des Bundesinnenministeriums hervor. Sie ist so hoch wie seit 15 Jahren nicht mehr. Ursula Sillge und Bettina Dziggel schweigen nicht. Sie kämpfen noch immer.