30 Jahre nach Ende der SED-Diktatur suchen immer noch tausende Menschen nach Antworten: Durch Einsicht in ihre Stasi-Akte. Auch für Friedhelm Martens ist die Aufarbeitung noch lange nicht vorbei.
Die meisten Zettel, die Friedhelm Martens seit der Wende zu Gesicht bekommen hat, sind total belanglos. „Man wundert sich, was die alles aufgeschrieben haben“, sagt der 58-Jährige mit lichtem grauen Haar. Über manche Notizen der Staatssicherheit kann er lachen: Wo er einkaufte, mit wem er sprach. Andere Schriftstücke lassen ihm bis heute keine Ruhe. Die letzte Einsicht liegt zwei Jahre zurück.
Martens ist ein Kind der DDR. Heute lebt der Familienvater in Bünsdorf, nördlich von Hamburg. Rund 400 Menschen leben hier in rotbraunen Häusern. Wildrosen streben über die Gartenzäune. „Eine tolle Gemeinschaft“, sagt Martens in seinem Wohnzimmer. Sein Beruf als Prediger hat ihn hierher verschlagen. Durch seinen klaren Blick drängen Erinnerungen. „Mich hat immer interessiert, wie menschenverachtend die Stasi gearbeitet hat. Wie dieses System funktionierte.“ Aufklärung ist ihm wichtig; er berichtet als Zeitzeuge an Schulen. „Ich finde, es wird viel zu wenig über diese Zeit gesprochen.“
Martens will wissen, was das Regime mit ihm gemacht hat. Seit der Wiedervereinigung beantragt er regelmäßig Einblick in seine Stasi-Akten. Anfangs wurde nichts gefunden, dann einzelne Dokumente. Zettel für Zettel setzt er seit 30 Jahren sein Leben zusammen. Aber jeder Satz wirft neue Fragen auf.
Verhaftungen, Angstgefühle, Therapien
Geboren wurde Martens am 13. November 1960 in Ost-Berlin. Sein Vater war leitender evangelischer Pastor in der DDR, seine Mutter Krankenschwester. Beide standen dem System kritisch gegenüber. „Wir sind von meinen Eltern so erzogen worden, dass wir einen geraden Gang gehen. Wir sollten uns nicht anpassen, um irgendwelche Vorteile zu bekommen. Wir sollten uns selbst im Spiegel angucken können.“
Die evangelische Kirche in der DDR war die einzige große Organisation, die nicht vom Staat organisiert wurde. Sie bot einen Raum für Andersdenkende – was sie in den Fokus der Stasi rückte. Martens Vater wurde als Querulant eingestuft. Mehrfach bot man ihm an, er dürfe ausreisen. „Irgendwann wollten sie ihn nur noch loswerden. Er war auch aufgrund seiner Funktion sehr unbequem für den Staat.“ Später galt das gleiche für Friedhelm Martens. Er leitete kirchliche Jugendgruppen, schloss sich der Friedensbewegung an. Genug, um verdächtig zu sein.
Martens wurde mehrfach verhaftet. „Das erste Mal wurde ich mit 17, 18 Jahren von der Staatssicherheit weggekascht“, erzählt er mit einem unsicheren Lächeln im Gesicht. Er berichtet von Verhören, Demütigung und Folter im Stasigefängnis Hohenschönhausen.
„Die Angstgefühle sind heute noch da“, sagt der Prediger und schnauft. Seine Augen glänzen. „Ich überlege noch immer sehr genau, wem ich was erzähle.“ Er gehe gehemmt in jedes Gespräch, sagt er. „Das werde ich einfach nicht mehr los, trotz Verhaltenstherapien.“ Viele offene Fragen quälen ihn: Wer hat ihn beobachtet, wer hat ihn angeschwärzt?
Auf der Suche nach Antworten
Im Herbst 1989 versuchte die Stasi, die Spuren ihres Machtmissbrauchs zu verwischen. Bürger*innen stürmten die Zentralen und stoppten das Schreddern der Aktenberge. Im Dezember 1991 legte das Stasi-Unterlagen-Gesetz fest, dass jeder Einblick in Dokumente erhalten darf, die ihn betreffen.
Mitte der 1990er Jahre wollten er und sein Vater Klarheit. Beide stellten Anträge auf Einblick in ihre Akten. Sein Vater fand heraus, dass die Nachbarsfamilie sie jahrelang ausspioniert hatte. Er selbst musste länger auf Antworten warten. Im Zwei-Jahres-Takt schickte er Anfragen an den Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU). Immer wieder meldete die Behörde, dass zu Friedhelm Martens nichts vorliege. „Doch ich wusste, da muss was sein.“
Diese Operationsmethode beim Bürger Friedhelm Martens ausprobieren. Wenn er die Operation nicht überstehen sollte, ist es kein Verlust für die sozialistische Gesellschaft.
Friedhelm Martens berichtet von der Akteneinsicht
Schließlich wurde doch noch etwas zu ihm gefunden. „2006 muss es gewesen sein. Da wurde ich dann endlich eingeladen.“ Der Sachbearbeiter führte ihn in einen Lesesaal. Fotografieren oder Abschreiben war verboten. Was Martens damals in den Akten las, bestätigte eine schlimme Vermutung.
Vor ihm lag ein Schreiben des Ost-Berliner Bildungsministeriums: Es wies seinen damaligen Direktor an, dass Martens die Schule nicht besser abschließen dürfe als mit der Note 2. „Sie haben mich somit daran gehindert, Abitur zu machen und zu studieren.“ Eine Schulsekretärin habe das später bestätigt, erzählt der 58-Jährige. Diese Anordnung hat bis heute Auswirkungen auf sein Leben. Eigentlich wollte er Lehrer werden. Durch ein kirchliches Angebot konnte er zumindest Theologie studieren. „Damals sind viele Träume zerplatzt. Manchen trauere ich bis heute nach.“
Ein Verdacht treibt ihn um
Nicht nur die Karriere, auch sein Körper hat gelitten. Martens glaubt, als junger Radsportler gedopt worden zu sein. Im Leistungssport suchte er mit 13 die Anerkennung, die ihm als Außenseiter in der sozialistischen Gesellschaft verwehrt blieb.
Seine langjährigen Nierenprobleme geben ihm und Ärzt*innen heute Grund zur Annahme, dass er Opfer des Staatsdoping-Systems der DDR wurde. Er selbst weiß nur, dass er damals beim Training bunte Pillen bekommen hat. Ihm wurde gesagt, damit würde er besser regenerieren. „Doping, das Wort kannte ich ja damals gar nicht. Als junger Mensch hat man den Trainern vertraut.“
Mit 18 musste er das erste Mal wegen Nierenschmerzen ins Krankenhaus. Er wurde operiert und erholte sich. Heute weiß er, dass das alles andere als selbstverständlich war. Bei der letzten Akteneinsicht stieß Martens auf eine Anweisung, gerichtet an das Krankenhaus Berlin-Friedrichshain: „Diese Operationsmethode beim Bürger Friedhelm Martens ausprobieren. Wenn er die Operation nicht überstehen sollte, ist es kein Verlust für die sozialistische Gesellschaft.“ So erinnert er sich an den Wortlaut. „Diese zwei Sätze waren für mich ein Schock.“ Ihm wurde damals nur gesagt, ein Experte aus Moskau würde ihn operieren. „Er wolle ein ganz neues Verfahren verwenden, sagten sie mir.“ Martens willigte ein.
„Das so zu lesen . . . wie menschenverachtend das ist. Da wurde einfach mit dem Leben der Menschen gespielt.“ Martens ringt sich ein Schmunzeln ab: „Böse gedacht, doch Gutes ist geworden. Die OP ist gelungen.“
Nicht auf jede Frage ist eine Antwort in den Akten zu finden. Noch heute vermutet Martens, dass jemand aus seiner Verwandtschaft ihn bespitzelt hat. Beweisen können wird er es vielleicht nie. Viele Dokumente der SED-Diktatur sind verschollen, zerstört oder nicht erschlossen. 15 500 Säcke zerrissenes Papier lagern noch heute in den Stasi-Archiven. Anfangs puzzelten die Mitarbeiter*innen von Hand, heute setzt ein Scanner die Fetzen elektronisch zusammen. Das braucht Zeit. Wann alles zugänglich sein wird, kann bei der BStU niemand sagen.
Manches kommt auf unerwarteten Wegen ans Licht. Vor drei Jahren bekam Martens einen Anruf von einem Jugendfreund. Er habe ihm gestanden, dass er sich auf Wunsch seiner Eltern mit ihm angefreundet habe. „Er sagte, seine Eltern hätten von der Stasi den Auftrag dafür bekommen. Beim Abendbrot wurde er dann immer gefragt, was ich so gesagt habe.“
Manche Betroffenen wollen nicht wissen, was in ihren Akten steht. Andere entscheiden sich erst im Alter für eine Akteneinsicht oder stellen Anfragen für verstorbene Angehörige. 2018 gingen rund 45 000 Anträge bei der BStU ein.
Ein Kreis schließt sich
Martens hofft noch heute, dass weitere Dokumente über ihn gefunden werden. Er wünscht sich Klarheit – und die Möglichkeit zur Aussprache. Anfangs hatte er Angst, den Menschen, die ihm geschadet haben, nicht vergeben zu können. Durch die Beschäftigung mit der Arbeit der Stasi jedoch wuchs sein Verständnis: „Ich wurde barmherziger mit den Leuten. Viele wurden einfach massiv unter Druck gesetzt.“
Ein Schnippchen kann er dem untergegangenen System, das sein Leben so lange steuerte, doch noch schlagen. „Ich habe in Berlin ein Angebot bekommen”, sagt er freudestrahlend. „Für mich schließt sich ein Kreis.” Ab Anfang nächsten Jahres wird Martens als Lehrer für Religion und darstellendes Spiel arbeiten.
Sein größter Wunsch geht so 30 Jahre nach dem Mauerfall in Erfüllung. Und ein Kapitel seines Lebens ist vollständig.