Drei Jahre vor dem Mauerfall schrieben Eisenhüttenstadt und das saarländische Saarlouis Geschichte – mit der ersten deutsch-deutschen Städtepartnerschaft. Eine vorsichtige Ost-West-Annäherung, die Schlagzeilen machte und nicht allen gefiel. Über kritische Stimmen, langjährige Kontakte und einen verschwundenen Trommler.
Das Erste, was Manfred Hoffmann auffiel, als er in Westdeutschland aus dem Bus stieg, war das Gras: „Das war irgendwie grüner als bei uns.“ Es war das Jahr 1987. Für den damals 30-Jährigen war es der erste Besuch im Westen. „Für uns war das eigentlich unerreichbar – so als ob man auf den Mond fährt.“
Der Mond hieß in diesem Fall Saarlouis. Eine Kreisstadt im Saarland mit rund 30.000 Einwohner*innen. Hoffmann kam aus dem über 800 Kilometer entfernten Eisenhüttenstadt. Nur wenige Monate zuvor hatten die beiden Städte Geschichte geschrieben, als sie eine deutsch-deutsche Städtepartnerschaft besiegelt hatten. Die erste überhaupt.
Hoffmann war Tänzer im Eisenhüttenstädter Volkskunst-Ensemble. Es war die zweite Gruppe aus Eisenhüttenstadt, die dem Partner im Saarland einen Besuch abstatten durfte. „Das musste alles von der Stasi abgenickt werden“, erinnert sich der heute 63-Jährige. Vorbereitet war ein mehrstündiges Show-Programm für das Stadtfest in Saarlouis. Außerdem sollte es Gelegenheit zum Austausch und Kennenlernen geben. Hoffmann sagt: „Das war schon irre.“
Für uns war das eigentlich unerreichbar – so als ob man auf den Mond fährt.
Manfred Hoffmann
Saarlouis im Juli 2019. Trotz der sommerlichen Temperaturen ist es kühl im Wohnzimmer von Erich Pohl. Der 90-Jährige sitzt am Tisch, vor ihm stapeln sich dicke Aktenordner. Fotos, Zeitungsausschnitte, Rede-Manuskripte: Der ehemalige Sonderschulrektor hat alles über die Partnerschaft zwischen den beiden deutschen Städten gesammelt. „Hier können Sie alles nachlesen“, sagt er immer wieder und deutet auf die Dokumente. Viel lieber erzählt er jedoch selbst. Als hauptamtlicher Kulturbeigeordneter in Saarlouis war er schließlich von Anfang an dabei. Der Nachmittag mit ihm wird zur Zeitreise in das noch geteilte Deutschland der 1980er.
Als damals die Stadt Saarlouis nach einer Partnerstadt jenseits der Mauer suchte, fiel die Antwort der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn relativ kurz aus: Für eine Partnerschaft würden „die notwendigen Voraussetzungen“ fehlen. Die Saarländer*innen gaben nicht auf – und wandten sich direkt an Erich Honecker. Der stammte ursprünglich aus dem Nachbarkreis Neunkirchen. Auch Oskar Lafontaine, damals saarländischer Ministerpräsident, reiste nach Ost-Berlin, um den DDR-Staatschef von der Idee zu überzeugen. „Der hat dann noch ein bisschen Feuer gemacht“, sagt Pohl und lacht.
Die Wahl fiel auf Eisenhüttenstadt: Vorzeige-Retortenstadt des Kommunismus. „Wir nannten es immer Ei-Hü“, erinnert sich Pohl. Gemeinsam mit einer Delegation reiste er Richtung Osten, sein erster Eindruck der Planstadt: „Viele Kasernenbauten, aber doch ganz schön.“ Nach der Begrüßung stand für ihn fest: „So übel sind die doch gar nicht.“ Manche ideologische Formulierung, so Pohl, habe der erste Entwurf der Vereinbarung durchaus enthalten. Auf Ausdrücke wie „staatliche Souveränität“ oder „Friedensliebe des Sozialismus“ legte die Eisenhüttenstädter Gruppe besonderen Wert. Alle Schritte mussten von der SED abgesegnet werden. Es war ein langes Ringen. Die vereinbarten Ziele lauteten schließlich: Austausch und Zusammenarbeit zwischen den kommunalen Einrichtungen und gesellschaftlichen Organisationen. Auf dem Programm: Informationsreisen und -gespräche, gegenseitige Besuche von Delegationen, Jugendgruppen und Künstler*innen.
Es war eine Gehschule deutsch-deutscher Kontakte.
Erich Pohl
Unterschrieben wurde der Vertrag am 19. September 1986 in Saarlouis, besiegelt am 6. Oktober 1986 in Eisenhüttenstadt. Handelte es sich tatsächlich um einen ersten Haar-Riss in der Mauer? Eine „Gehschule deutsch-deutscher Kontakte“ nennt Pohl die Partnerschaft, und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Natürlich waren wir als Stadt stolz.“ Innerhalb kürzester Zeit wurden Saarlouis und Eisenhüttenstadt zum Thema in den Medien – und das weltweit. „Sogar Fernsehteams aus Südkorea und den arabischen Staaten waren dabei“, erinnert sich der 90-Jährige. In Deutschland waren die Reaktionen nicht immer positiv. Die Bild-Zeitung schrieb von einem „üblen Propagandapapier, (…) das nur Funktionärsreisen fördert.“ Der Normalbürger, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung, bleibe außen vor: „Die Delegation von Saarlouis muss von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, als sie so etwas akzeptierte.“
Über Nacht verschwindet der Trommler
Die Tänzer*innen und Musiker*innen des Eisenhüttenstädter Ensembles hatten auf jeden Fall eine gute Zeit im Saarland. Für sie ging es an diesem Mai-Wochenende 1987 an die Saarschleife, in die Saarlouiser Ford-Werke und ins Karl-Marx-Haus in Trier. „Wir hatten volles Programm von morgens bis abends, da musste man gut zu Fuß sein“, erinnert sich Manfred Hoffmann. Geschlafen wurde im Hotel. Zu enger Kontakt mit den Einheimischen war dann auch wieder nicht erlaubt. Alles offiziell, alles geordnet.
Erschlagen war Hoffmann vor allem von der großen Vielfalt. Eigens für die Besucher*innen aus dem Osten wurde am Sonntag das Kaufhaus in Saarlouis aufgemacht: Jeder bekam 60 DM und durfte sich mit dem Geld etwas aussuchen. „Wir wurden wirklich hofiert und herumgezeigt“, erinnert sich Hoffmann, „seht her, das sind die Eisenhüttenstädter.“ Negatives? Habe es eigentlich nicht gegeben – „außer, dass alles schon recht teuer war.“ Und vielleicht die Abreise. Die kam nämlich ziemlich überstürzt.
In der Nacht von Samstag auf Sonntag verschwand plötzlich ein Mitglied der Gruppe aus der DDR. Der Trommler aus der Eisenhüttenstädter Band hatte sich heimlich abgesetzt, seine Flucht war anscheinend schon länger geplant. „Wir haben später erfahren, dass er sogar westdeutsches Geld in seinen Drums versteckt hatte“, erzählt Hoffmann, „doch zu dem Zeitpunkt wussten wir von nichts.“
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Sogar die DDR-Vertretung in Bonn wurde informiert. Wie sollte es nun weitergehen? Ganz normal, entschieden schließlich die Verantwortlichen. „Wir hatten am nächsten Tag ja noch einen Auftritt“, sagt Hoffmann, „den mussten wir dann noch mit einem Ersatz-Trommler über Nacht komplett neu einstudieren.“ Im Anschluss hätten sich alle in den Armen gelegen und geheult – „aber mehr aus künstlerischer Perspektive, nicht aus politischer.“ Aus Angst vor weiteren Fragen reiste die Gruppe dennoch etwas früher ab als eigentlich geplant. Wie später bekannt wurde, hatte sich der Musiker bei der Saarlouiser Polizei gemeldet, er wolle im Westen bleiben. Die befürchteten Repressalien blieben wider Erwarten aus.
Bis zur Wende wurden fast 60 deutsch-deutsche Städtepartnerschaften ins Leben gerufen. In dieser Zeit besuchten 626 Saarlouiser*innen Eisenhüttenstadt und 465 Eisenhüttenstädter*innen Saarlouis. Auch nach 1990 bleibt der Kontakt zwischen den Partnerstädten bestehen – wenn auch in abgeschwächter Form.
Heute gibt es in Eisenhüttenstadt die Saarlouiser Straße und in Saarlouis die Eisenhüttenstädter Allee. Die Bürgermeister treffen sich ab und an zu Gesprächen. Die Freiwillige Feuerwehr besucht sich regelmäßig. Auf den Stadtfesten in West und Ost gibt es saarländischen Schwenker und Thüringer Rostbratwurst. Die meisten Bewohner*innen waren jedoch noch nie in der Partnerstadt – gerade die Jüngeren haben oft kein größeres Interesse. Eine deutsch-deutsche Städtepartnerschaft in einem seit fast 30 Jahre wiedervereinten Deutschland – ist das nicht überholt?
Denkt man. Und hört dann die Geschichte von Carmen und Michael Krüger. Der Eisenhüttenstädter und die Saarlouiserin haben sich über die Städtepartnerschaft kennengelernt. Beide waren im jeweiligen Tischtennisverein aktiv. Als ihre Clubs 1991 gemeinsam eine Tour nach Frankreich machten, kamen sich die beiden näher. Nach einer Fahrt nach München war das für den damals 26-jährigen Michael Krüger der erste große Ausflug in den Western. Der Bauingenieur hatte gerade sein Studium abgeschlossen und war auf Jobsuche. In Eisenhüttenstadt würde es nicht so einfach werden, das war ihm damals klar: „Ich wollte mich auf jeden Fall mal in Westdeutschland umhören“, erinnert er sich. Dann ging alles ganz schnell: „Im Juli fand unsere gemeinsame Fahrt statt, im Dezember habe ich dann einen Arbeitsplatz im Saarland gefunden.“ Mittlerweile sind die Krügers seit mehr als 20 Jahren verheiratet und wohnen zusammen in Saarbrücken. „Unterschiede zwischen ost- und westdeutscher Mentalität merken wir eigentlich nicht“, sagt Krüger und lacht.
Auch der 90-jährige Erich Pohl ist davon überzeugt, dass die Städtepartnerschaft zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt bis heute eine Bedeutung hat: „Wenn etwas in einer schwierigen Zeit aufgebaut wurde, dann soll man das nicht einfach so zugrunde gehen lassen.“