Der Mauerfall beschäftigt uns auch noch 30 Jahre nachdem er stattfand. Ein Essay über eine Erzählung, die längst nicht abgeschlossen ist.
Es ist eine beliebte Frage: Was hast du am 9. November 1989 gemacht? Die Antwort der meisten von uns Autor*innen lautet: nichts. Wir waren noch nicht geboren. Wir haben die ehemalige Grenze mehrfach überquert, meist ohne sie wahrzunehmen. Oft war sie für uns nur ein Hinweisschild am Straßenrand. Für uns war Deutschland immer ein Land.
Wir sind die erste Generation, der es so geht. Deshalb fragen wir uns: Wie ist aus zwei Ländern eines geworden? Welche Geschichten machen dieses eine Land zu dem, was es heute ist? Gibt es die eine Erzählung, in der sich alle wiederfinden?
Es bleibt kompliziert von Deutschland als einem Land zu reden, denn Mauerfall und Wende erscheinen in Ost und West als unterschiedlich bedeutend. Die Vereinigung ist ökonomisch, politisch und soziokulturell nicht abgeschlossen. Deshalb können Probleme, die es überall in diesem einen Land gibt, etwa das Erstarken von Rechtsradikalismus, als Defizite nur als eines seiner Teile wahrgenommen werden. Allein, dass die Kategorien „Ost“ und „West“ für die Nachwendegenerationen verständlich sind, zeigt, dass sie weiter identitätsstiftend sind.
Problematische Metapher
Dabei ist das Credo, dass „zusammen wächst, was zusammen gehört“, zur beliebtesten Wende-Metapher avanciert. Im 1400 Kilometer langen Grünen Band zwischen Ostsee und Fichtelgebirge scheint sie Wirklichkeit geworden zu sein. Aber diese Metapher passt nicht auf politisches Handeln. Denn niedrigere Löhne und Renten, Beschäftigungsraten und Lebenserwartungen in den ehemals neuen Bundesländern verschwinden nicht irgendwann von selbst wie der mittlerweile grün überwucherte Grenzstreifen.

Die Metapher des Zusammenwachsens lässt den mit der Wende entstandenen Nationalstaat als natürliches Gebilde erscheinen. Eine Vorstellung, die es einfach macht, alle vermeintlich anderen auszuschließen, weil sie angeblich nicht dazu gehören. Dabei greift das Bild gerade an den Grenzen viel zu kurz: In Städten wie Guben in der Lausitz und ihrer polnischen Schwester Gubin oder im nordrhein-westfälischen Herzogenrath und Kerkrade in den Niederlanden sind praktische und kulturelle Kooperationen gewachsen, die nicht Halt an nationalen Grenzen machen.
Lautet das Leitmotiv für jüngere deutsche Geschichte, dass nur zusammenwächst, was schon immer zueinander gehört, bedeutet das, Erzählungen, Menschen und Identitäten auszublenden. Bei unseren Protagonist*innen wie auch bei uns Autor*innen dominiert eine weiße Perspektive. In unserem Magazin kommen Geschichten von Migranten kaum vor. Dabei wurden auch die Leben vieler Menschen ohne deutschen Pass durch die Vereinigung geprägt, aber nicht in jedem Fall positiv: Beispielsweise verloren zahlreiche Vertragsarbeiter*innen in der DDR plötzlich ihr Aufenthaltsrecht. Während Millionen die deutsche Einheit feierten, mussten tausende Menschen, die hier lebten, arbeiteten und Steuern zahlten, das neue, geeinte Land verlassen.
Auslassungen werden auch beim Blick auf das Geschlechterverhältnis in unseren Texten deutlich. Polemisch zusammengefasst: Männer haben die Wende gemacht, Frauen ist sie widerfahren. Männer sind geflohen, Männer haben Fußball gespielt und Verwaltungen geprägt, Männer schreiben Bücher oder streiten über Unterschiede zwischen Ost und West.
Wir brauchen eine vielstimmige, diverse Erinnerung.
Zu all den Themen hätten auch Frauen ihre Geschichten erzählen können. Dass sie in unserem Magazin wenig zu Wort kommen, hat auch strukturelle Gründe: Die DDR war, die BRD ist bis heute patriarchalisch geprägt. Und offensichtlich haben auch wir zuerst an Männer gedacht, um uns von ihren Erfahrungen berichten zu lassen.
Längst nicht alle Geschichten rund um Mauerfall und Wendeprozess sind erzählt. Wir brauchen eine vielstimmige, diverse Erinnerung, um zu verstehen, was das Ereignis für unser Zusammenleben heute bedeutet. Zu diesem einen Land, das stets im Werden ist, gehören viele verschiedene Identitäten – in denen das Erbe von Ost und West ein Aspekt unter vielen ist.