Nicolas und Sebastian haben das geteilte Deutschland nicht erlebt, doch begreifen sich als “Ossi” und “Wessi”. Im Berliner Mauerpark kommt es zum Gespräch.
Zehn Menschen stehen nebeneinander. Wer ist Ossi, wer ist Wessi? Sebastian ist 29 Jahre alt und glaubt, den Unterschied auf Anhieb zu erkennen: „Ossi-Mädels sind die mit zwei Haarfarben“, sagt er und muss lachen. Dass der Pony eine andere Farbe als die restlichen Haare hat, bekomme man bei den Wessi-Mädels nicht zu sehen. Bei den Jungs werde es schon schwieriger. „Welcher Wessi würde schon einen Pulli mit der Hauptstadt drauf tragen?“, wirft Nicolas ein und nimmt seinen Pullover mit dem aufgedruckten Berliner Pilsner Bär vom Tisch. „Mal ehrlich: Hauptsache, man läuft entspannt rum“, sagt der 22-Jährige. Nicolas glaubt nicht, dass er Ossis von Wessis adhoc unterscheiden könnte. Aber Unterschiede gebe es. Die Sache mit den Haarfarben ist ihm jedenfalls nie aufgefallen.
Ossi, Wessi oder Deutscher?
Für die meisten Menschen unter 30 ist der Mauerfall nicht mehr als ein geschichtliches Ereignis. In der Schule steht er wochenlang auf dem Lehrplan, ist vielleicht sogar Teil der Abiturprüfung und fordert vor allem eines: Namen und Jahreszahlen auswendig lernen. Aber ist die Wende für diese Generation noch ein Thema? Und was ist aus der Denke geworden, die sich mit dem Mauerfall auf beiden Seiten der Republik über „die Anderen“ eingeschlichen hat? Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung hat dies gemeinsam mit der Forschungsagentur Pollytix untersucht: Eine Mauer in den Köpfen existiert selbst in den Generationen noch, die ohne die Mauer aufgewachsen sind. Aber sie beginne zu bröckeln.
Bemerkenswert ist auch, dass sich der Studie zufolge junge Ostdeutsche beinahe genauso stark als ostdeutsch identifizieren, wie als deutsch. So geht es Nicolas, der in der Gemeinde Panketal im Speckgürtel Berlins lebt. Sebastian dagegen lebt mit seiner Freundin in Berlin-Steglitz und gehört zu denen, die sich als Wessis verstehen. Der Studie nach, ist das unüblich. Junge Westdeutsche verstünden sich in erster Linie als deutsche. „In Bayern oder Baden-Württemberg bekommt man die Unterschiede halt nicht so mit. In Berlin treffen Ost und West direkt aufeinander“, erklärt Sebastian.
Wohnungssuche im Osten der Stadt
Nicolas trinkt Berliner Kindl, Sebastian Gösser Naturradler, und beide wären sich vermutlich nie begegnet, hätte man sie nicht zu einem gemeinsamen Abend überredet. Sebastian hätte es auch nicht in den Mauerpark verschlagen. Zwischen den Sprayern, die mit Kippe im Mund auf den Mauerresten malen, kann er sich nicht zu hundert Prozent entspannen. Der Park ist kein Teil von seinem Berlin. Umso lässiger greift Nicolas zu seinem Bier: „Es heißt ja immer, dass man etwas Neues kennenlernen soll, aber ich hab nicht mal meine eigene Gegend komplett kennengelernt. Da muss man erstmal anfangen“. Würde man ihn kidnappen und irgendwo in Berlin aus dem Wagen werfen, er wüsste sofort ob er im Osten oder Westen der Stadt wäre. Nicolas ist zurzeit auf Wohnungssuche und zeichnet sein Suchgebiet mit einem Finger auf dem Tisch nach. Es ist der ehemalige Ostteil der Stadt, denn in Westberlin kenne er sich nicht aus und müsse das auch gar nicht.
Jaja. Dat sin se. Die Ossis.
Sebastian reagiert auf ein paar gröhlende Sprayer im Mauerpark.
Dabei definiert sich der Anlagenmechaniker-Azubi weniger als Ost-Berliner, sondern vor allem als Neu-Brandenburger. Geboren wurde er in der Charité in Berlin-Mitte. Nach seinen ersten vier Jahren im Prenzlauer Berg, ist er mit seinen Eltern in ein Haus im Berliner Speckgürtel gezogen. In Außenbezirke wie Spandau würde es ihn allerdings nie verschlagen. „Nüscht gibt es in Spandau. Nüscht, nüscht, nüscht“, sagt er mit fester Stimme.
Nur westdeutsche Freund*innen
In Sachen Spandau stimmt ihm Sebastian beherzt zu. Nur ohne Berliner Dialekt, weil der sein Ohr beleidigt: „Im Osten kommt dieser Dialekt viel stärker durch“, bemerkt er. Aber das vereine doch, empört sich Nicolas. „Boah ne“, entfährt es Sebastian. Er arbeitet für die Personalabteilung eines weltweit agierenden Logistikdienstleisters. Aufgewachsen ist er in Neukölln, gerade noch auf Westberliner Seite. Schon als Kind ist Sebastian beim Fahrradfahren der breite Grenzstreifen mit dem restlichen Stacheldraht aufgefallen. Sein Vater sei ein „typsicher Wessi“, der gerne über die Ossis meckert. Seine Mutter dagegen, eine Engländerin, hat auch ostdeutsche Freund*innen. Sebastian steht irgendwo dazwischen: Er habe nichts gegen Ostdeutsche, aber zu seinen Freund*innen zählen ausschließlich Westdeutsche. Nicolas geht es ähnlich: „Naja bei mir sind’s halt die Schulfreunde, und die sind alle aus dem Osten.“ Nicolas hat als Kind keine Unterschiede gespürt, weil es keinen Kontakt zu Westdeutschen gab. Dass die Stadt aber einst geteilt war, hat er über Erzählungen seiner Eltern und Großeltern mitbekommen: „Man hat ja trotzdem gut leben können in der DDR. Sie konnten zwar nicht überall in den Urlaub hinfahren, aber das Leben war günstig“, sagt er. Stolz ist er auf die Werte, die ihm zu Hause vermittelt wurden. „Die Familie steht an erster Stelle und auch der Job oder was man so verdient, ist nicht so wichtig, solange man glücklich ist.“
Am Ende ist alles nur Spaß
Geld und Wohlstand verbinden Nicolas und Sebastian mit dem Westen. Nicolas verbindet den Westen auch immer mit einer gewissen arroganten Einstellung. „Man hat sich die Wiedervereinigung zu einfach gemacht“, sagt er und erinnert an die Treuhand. Aber in den Köpfen der Ostdeutschen sei der Materialismus auch voll im Kommen, und die Werte zu einem bloßen Lebensgefühl geworden. „Aber es ist kein asozialer Materialismus. Nicht so offensiv wie im Westen.“ Sebastian widerspricht ihm nicht. Ein guter Job sei nun einmal wichtig. Gerade auf der Arbeit dauert es nicht lange, bis das Thema hochkommt, berichten beide. Von älteren Kollegen hört Sebastian immer mal wieder, wie die Dinge früher gelaufen sind, noch vor der Wende. „Wo wohnst du?“ heißt eigentlich „Kommst du aus Ost- oder Westberlin?“, erklärt Sebastian. Wenn das erstmal geklärt ist, geht es mit dem „Gemecker“ los: „Ach, der scheiß Ost’ler mal wieder“, zitiert Nicolas und lacht. Gemeckert werde auf beiden Seiten, das schaffe auch irgendwie Gruppenzugehörigkeit, meint er. Aber das meiste sei am Ende doch nur Spaß, finden beide.
Mit dem Wegbier zum Club
Von dem wiederum verstehe der Ossi mehr als der Wessi, zumindest wenn es ums Feiern geht: Während sich Nicolas in seiner Freizeit ausschließlich in Ostberlin aufhält, verlässt Sebastian den Westen manchmal, um auf eine Party zu gehen. Er klingt ein bisschen zerknirscht, wenn er erzählt, dass Ostberlin als der „coole“ Teil der Stadt gelte: „Ja, dieses Dreckige hat schon irgendwas.“ Aber er findet es schwierig, dass die meisten Menschen das alternative Berlin im Kopf haben, wenn sie an die Hauptstadt denken. Der Anblick eines „Wegbiers“ in der S-oder U-Bahn empfindet Sebastian alles andere als schmeichelnd. „Aber naja, wenn man’s nicht anders kennt, ist’s auch nicht so traurig.“ Nicolas reagiert in ungläubigem Ton: „Auf dem Weg zum Club ein Bier zu trinken, ist doch viel lockerer!“
Etwa drei Stunden sitzen Nicolas und Sebastian zusammen. Einig sind sie sich nur selten. Das ändert sich, als es zum Schluss um die Zukunft geht. „Die Grenzen werden zerfließen“, ist sich Sebastian sicher. „Wenn ich sehe, was sich alles in Pankow getan hat, auch wenn das viele Ostberliner vielleicht gar nicht so mögen.“ Nicolas vermutet Ähnliches. „Wir haben alles noch von zwei Generationen erzählt bekommen. Ich kann darüber aber schon keine richtigen Geschichten mehr erzählen. Aber so ganz weg sein, wird es wohl nie.“ Gerade in einer Großstadt wie Berlin werde die Zugehörigkeit, ob nun Ost oder West, vermutlich keine Rolle mehr spielen. Ganz anders schätzt er die Situation auf dem Land ein. „Da wird sich, glaube ich, nicht viel tun. Dieser Gedanke, dass im Osten eh nichts ist, wird bleiben, weil die Leute nur wenige Berührungspunkte haben. Das ist irgendwie schon traurig.“ In Berlin dagegen verschmelze alles. Und überhaupt: „Typisch Wessi. Eigentlich weiß doch niemand, was damit gemeint ist“, sagt Nicolas.
Je später der Abend wird, desto gelöster ist die Stimmung im Mauerpark. Als einige Sprayer in der Nähe plötzlich grölen, müssen Nicolas und Sebastian unweigerlich den Kopf drehen: „Aaah, einer aus der Zone“, ruft der Neu-Brandenburger begeistert. Sebastian nickt andächtig. „Jaja. Dat sin se. Die Ossis.“