Über 30 Jahre arbeitete der gebürtige West-Berliner Wolfhard Zehe als Barkeeper in Prenzlauer Berg. Seine Arbeit brachte ihn sogar zu einem Auftritt in einem Kinofilm.
„Ein ganzer Kinosaal für mich. Das muss ich unbedingt fotografieren“, staunt Wolfhard Zehe und holt sein Handy hervor. Auch wenn die moderne Smartphone-Kamera nicht so recht ins Ambiente des 1963 errichteten Gebäudes passen möchte – so eine Möglichkeit hat der 74-Jährige schließlich nicht alle Tage. Das Kino International, in dem sich neben der Filmprominenz auch die politische Elite der DDR jahrelang zu großen Filmpremieren einfand, trägt den Charme der sozialistischen Baukunst noch immer in sich. Vor dem großen Kinosaal erstreckt sich das Kinofoyer mit einer Fensterpromenade, die einen Panoramablick auf das pulsierende Berliner Stadtleben im Schatten des Fernsehturms gibt, aktuell aber vor allem von der Großbaustelle an der Karl-Marx-Allee geprägt ist.
Zehe selbst ist lange nicht mehr in diesem Kino gewesen – und das, obwohl er hier selbst schon einmal auf der Leinwand zu sehen war: Es war im Film „Coming Out“ des durch Klassiker wie „Die Legende von Paul und Paula“ berühmten Regisseurs Heiner Carow. „Coming Out“ ist vor allem aus zwei Gründen in Erinnerung geblieben: Es war der erste Film in der DDR, der sich mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzte, und es war der Film, der im Kino International am Abend des Mauerfalls seine Premiere feierte.
„Naja, ich war höchstens sieben oder acht Sekunden zu sehen“, ordnet Wolfhard Zehe heute seine doch sehr kurz geratene Karriere als Schauspieler ein. Wobei: Auch das sei nicht ganz richtig, schließlich habe er in dem Film weniger eine Rolle gespielt als vor allem das getan, womit er auch im realen Leben sein Geld verdiente: hinter der Theke stehen und Getränke ausschenken.
Eine Kneipe als Drehort
Der Film „Coming Out“ handelt von dem jungen Lehrer Philipp Klarmann, der seiner alten Jugendliebe Matthias wieder begegnet, während er bereits in einer Beziehung mit seiner Kollegin ist. Dadurch muss er sich mit seiner lange verdrängten Homosexualität auseinandersetzen, es kommt zum Eklat. In den Hauptrollen sind Matthias Freihof, Dagmar Manzel und Dirk Kummer zu sehen.
Da Regisseur Carow für das Projekt besonders nach authentischen Schauplätzen suchte, geriet auch die ebenfalls seit 1963 existierende Schoppenstube in der Schönhauser Allee, im Volksmund auch einfach „Schoppe“ genannt, in seinen Blickpunkt. Dort gingen in den späten 1980er Jahren an jedem Abend hunderte Leute aus der Schwulenszene ein und aus. Zusammen mit der ebenfalls bei Homosexuellen beliebten Gaststätte „Zum Burgfrieden“ wurde die „Schoppe“ so zu einem Drehort für den Film auserkoren.
Ein unbezahlbarer Job
Zehe selbst kommt Anfang der 1980er als Barkeeper in die Schoppenstube – auch weil der Gastronom gute Kontakte zum Besitzer hat. „Der Job war unbezahlbar, ich will nicht sagen, was ich dort jede Woche verdient habe“, sagt er heute. Sein Chef habe das homosexuelle Publikum vor allem als zahlende Kundschaft gesehen, weiß er. „Einerseits fand er, dass jeder so leben sollte, wie er möchte. Andererseits war das auch eine finanzielle Frage, wenn man sieht, was die Schwulen für Umsatz gebracht haben“, erklärt Zehe. Im von zahlreichen Bars durchzogenen Stadtteil Prenzlauer Berg wird die „Schoppe“ bald zu einer der bekanntesten Szenekneipen für Homosexuelle. „Das war in Berlin das Haus eins, Haus zwei war dann der Burgfrieden. Dann gab es noch das Cafe Peking in der Schönhauser Allee, das Cafe Senefelder, das eher auf Lesben ausgerichtet war und die Altberliner Bierstuben“, zählt Zehe auf. Doch nirgendwo ist der Andrang so groß wie in der „Schoppe“: „Die Gäste haben in 20 Meter langen Schlangen gestanden, manche kamen erst nach zwei oder drei Stunden hinein.“
Keine Statisten, sondern Gäste
Von seinem bevorstehenden Filmdebüt bekommt der Barkeeper aber zunächst nur wenig mit. „Der Chef hat uns das mal nebenbei beim Kaffeetrinken erzählt“, sagt Zehe schulterzuckend. Und auch vom eigentlichen Inhalt des Filmes erfährt er während des Drehs kaum etwas. „Unser Chef hat erzählt, wie der Film heißen soll und dass es ein Schwulenfilm ist.“ Die genauen Details interessieren ihn nicht besonders, der Auftritt bedeutet vor allem höhere Einnahmen. „Wir haben gearbeitet und dabei noch extra Geld verdient. Mir war es da doch egal, ob ich Getränke ausgebe und dabei gefilmt werde oder einfach nur Getränke ausgebe.“
Die Dreharbeiten finden an einem Wochenende statt, an denen in der Kneipe vom frühen Abend bis in den Morgen gedreht wird. „Die Statisten, die dort getanzt haben – das waren alles Gäste“, erklärt Zehe. Alles sei gut gelaufen und allgemein seien die Szenen in viel kürzerer Zeit gedreht worden, als er erwartet habe, erinnert er sich. „Nur einmal hat mich der Carow so richtig angefaucht: Kannst du hinter der Bar mal aufhören mit dieser Klapperei?“, so Zehe, dem man beim Erzählen auch 30 Jahre später noch seinen überraschten Blick ansieht.
Ich habe ganz normal bis sechs Uhr morgens gearbeitet.
Barkeeper Wolfhard Zehe über den Abend des Mauerfalls
Zur denkwürdigen Premiere an jenem Abend des 9. November 1989 ist Zehe dank seines Auftritts, wie alle Schauspieler, in das Premierenkino eingeladen. Doch er sagt ab. „Mein Chef hatte mich gefragt, ob ich hinmöchte. Ich wollte nicht, weil ich ja Schicht hatte“, erzählt er trocken. „In meinem jugendlichen Leichtsinn habe ich mir gesagt, dass ich den Film wahrscheinlich sowieso bald mal sehen werde.“
Und so verbringt Zehe den Abend des Mauerfalls so, wie an den meisten anderen Tagen: hinter der Theke als Barkeeper. „Ich habe ganz normal bis sechs Uhr morgens weitergearbeitet“, sagt Zehe. Irgendwann im Laufe des Abends habe ihn seine Schwester angerufen und gesagt, dass die Mauer gefallen sei. „Das war dann ein großes Geschrei im Laden.“ Einige seien sofort aufgebrochen, um mit eigenen Augen zu sehen, was sich an der Grenze abspielt. Auch die eigentlich in der Gaststätte „Zum Burgfrieden“ geplante Premierenfeier von „Coming Out“ fällt an diesem besonderen Abend ins Wasser. Zehe selbst zieht es an diesem Abend nicht über die Grenze. Zu seinem Geburtsort Tegel im Westen der Stadt hat er längst jeglichen Bezug verloren. „Ich durfte ja im April 1989 schon einmal wieder nach West-Berlin ausreisen, zum 88. Geburtstag meiner Tante. Nach ein paar Tagen bin ich schon zurückgefahren, weil ich mir dachte: Was soll ich dort?“
Das Ende der “Schoppe”
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands eröffnet sich ihm mit dem Rückzug des alten Besitzers die Möglichkeit, die „Schoppe“ selbst weiterzuführen. „Als ich dann festgestellt habe, dass ich ein gewisses Alter erreicht habe und keinen Job mehr bekomme, habe ich sie ihm abgekauft“, erzählt Zehe heute. Auch einige Darsteller*innen des Films sowie Beteiligte vom Filmteam begrüßt er dort nach der Wiedervereinigung noch einmal. „Der Dirk Kummer hat zum 10-jährigen Jubiläum einen Abend in der Schoppe eine Feier veranstaltet“, erinnert sich Zehe.
Doch die große Zeit des Ladens ist in den 90er Jahren vorbei, die „Schoppe“ wird in der Nachwendezeit zunehmend auch zur finanziellen Last für Wolfhard Zehe. „Im Prinzip habe ich nur noch Geld reingesteckt. Mit dem Wissen von heute hätte ich die Schoppenstube nicht gekauft“, sagt er. Als der Mietvertrag 2013 ausläuft und die neue Miete deutlich höher wird, entschließt sich der Ur-Berliner deshalb, die Gaststätte aufzugeben. Die Feier zum 50-jährigen Jubiläum im Sommer des Jahres ist somit auch der Abschied von der einstigen Kultkneipe.
Seinen Auftritt im letzten Film, der hinter der Mauer seine Premiere feierte, sieht Zehe schließlich erst nach der Wende zum ersten Mal, als der Streifen schon im Fernsehen läuft. „Da hat mich mein Nachbar darauf aufmerksam gemacht“, erinnert er sich. Das Ergebnis gefällt ihm, vor allem, da er anders als zahlreiche andere Filme des Genres keinen problematisierenden Blick auf die Schwulenszene in Berlin werfe. „Der Film drückt nicht auf die Tränendrüse, sondern stellt ganz einfach ein Stück Leben von zwei Menschen dar und zeigt, dass sie dieselben Probleme und Bedürfnisse haben wie andere auch. Da hat der Carow eine sehr gute Aussage mit getätigt“, findet Zehe. Und macht, wo er schon mal im altehrwürdigen Premieren-Kino ist, gleich noch ein paar Fotos.