Jahrzehntelang wanderten Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern in den Westen ab. Doch die Entwicklung ist inzwischen eine andere. Mittlerweile ziehen mehr Menschen aus dem Westen in den Osten als umgekehrt. Rückkehrerinitiativen bemühen sich weiterhin, ehemalige Einwohner*innen zurückzugewinnen. Auch in Westdeutschland gibt es mittlerweile solche Projekte.
Nur eine Handvoll Menschen stehen am Gleis 1 des Finsterwalder Bahnhofs. Es ist 16 Uhr. In knapp 20 Minuten trifft der Zug aus Leipzig ein. Stephanie Auras-Lehmann wartet auf ihren Besuch: Karin Gottfried aus dem nordrhein-westfälischen Hochsauerlandkreis. Was die Frauen verbindet: Sie beide leiten Rückkehrerinitiativen, die miteinander im Erfahrungsaustausch stehen.
Sowohl Finsterwalde als auch der Hochsauerlandkreis sind ländlich geprägt und kämpfen mit sinkenden Bevölkerungszahlen. Junge Menschen kehren ihrer Heimat den Rücken, für Ausbildung, Studium, Job. Auras-Lehmann macht zu Beginn der 2000er-Jahre eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau in Finsterwalde. Danach zieht es sie fort, sie geht für ein Studium nach Hessen. „Als Reiseverkehrskauffrau wollte ich einfach mal die Welt sehen“, sagt sie. Nach dem Studium arbeitet sie in Berlin, Leipzig und in New York. Gerne wäre sie in den USA geblieben. Doch die Liebe lockt sie zurück nach Hause. Marco, ihr heutiger Ehemann, überzeugt sie 2009, mit ihm nach Finsterwalde zu ziehen.
Keinen Anschluss gefunden
Laut Zahlen des Statistischen Bundesamtes zogen von 1989 bis 1990 rund 750.000 Menschen aus dem Osten weg. Vor allem junge, qualifizierte Männer und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren. Dadurch ging auch die Geburtenrate zurück. 1994 erreichten sie mit 0,77 einen historischen Tiefstand.
Finsterwalde hatte 1989 noch 23.892 Einwohner*innen. Heute sind es 16.220. Fast alle ostdeutschen Landkreise haben seit 1991 massiv Einwohner*innen verloren. Damit einher geht der Verlust von Steuereinnahmen. In manchen Orten mussten Schulen, Krankenhäuser, Sport- und Freizeitanlagen schließen.
Die 37-jährige Stephanie Auras-Lehmann ist in Finsterwalde als PR- und Social-Media-Managerin tätig, nebenbei betreut sie die Rückkehrerinitiative „Comeback Elbe-Elster“. Die Rückkehrenden, die sie begleitet, sind meist zwischen 30 und 40 Jahre alt und kommen häufig aus Bayern. „Oft höre ich von ihnen, sie hätten dort keinen Anschluss, keine Freunde gefunden“, sagt sie. Das sei für viele der Hauptgrund zurückzukehren. Auch eine Familiengründung oder ein Hausbau sind Anlässe für einen Umzug in die alte Heimat.
Anfangs erhielt die Initiative nur selten Anfragen. Inzwischen sind es um die zehn pro Monat. „Comeback Elbe-Elster“ hilft bei der Vermittlung von Jobs und Wohnungen. Finanziell unterstützt wird die Initiative von der Robert-Bosch-Stiftung.
Auch im Westen ein Problem
Dem Statistischen Bundesamt zufolge wird die Bevölkerungszahl in den ostdeutschen Flächenländern weiter abnehmen; bis zum Jahr 2030 voraussichtlich um 14 Prozent. Doch in den vergangenen Jahren sind die Abwanderungen deutlich zurückgegangen.
Einige Regionen in Ostdeutschland konnten sogar wieder Zuwachs verzeichnen. Mittlerweile gehen mehr Menschen aus dem Westen in den Osten als umgekehrt. Junge Leute hätten in Finsterwalde inzwischen mehr Perspektiven und weniger Gründe wegzuziehen, sagt Auras-Lehmann. Doch es sind vor allem die Groß- und Universitätsstädte, die attraktiver geworden sind.
Bevölkerungsentwicklung im Vergleich
Inzwischen ist der Zug aus Leipzig in Finsterwalde eingetroffen. Karin Gottfried kommt mit einem kleinen Trolley aus dem Bahnhofsgebäude. Auch sie ist eine Rückkehrerin, die eine Rückkehrerinitiative betreut.
Während der Osten seit Jahren mit einem Bevölkerungsrückgang zu kämpfen hat, ist dieser im ländlichen Raum Westdeutschlands noch ein junges Phänomen. 1990 wohnten im Hochsauerlandkreis 268.627 Menschen. Heute sind es 260.475 – bei einer Fläche von 1960 Quadratkilometern. Die Bevölkerungsverluste im Hochsauerlandkreis scheinen gering. Um einem Rückgang entgegenzuwirken, wurde 2016 trotzdem die Rückkehrerinitiative „Heimvorteil Hochsauerlandkreis“ gegründet. Wirtschaftlich geht es der Region gut. Viele kleine und mittelständische Unternehmen sind dort ansässig. Noch haben die Firmen unter keinem großen Fachkräftemangel zu leiden. Doch auch dort verlassen die jungen Menschen den ländlichen Raum zum Studieren – und kommen selten zurück.
Menschen ziehen in Unistädte
„Oft zieht es sie nach Köln, Münster oder Paderborn“, sagt Karin Gottfried. „Der Landkreis ist eingebettet in Unistädte. Wir haben eine Fachhochschule im Landkreis, die deckt aber nicht alle Bedürfnisse ab.“ Zwar gebe es genügend Ausbildungsplätze, jedoch nur für technische Berufe.
Gottfried selbst kommt aus Velmede, ein etwa 3500 Einwohner*innen zählender Ortsteil im Hochsauerlandkreis. Für ein Studium hat auch sie ihre Heimat verlassen. Sie ging nach Münster. Nach Stationen in Hamburg und Hannover kehrte sie 2016 zurück. Anlass war der Nachwuchs: „Das Landleben ist für mich einfach attraktiver, um Kinder großzuziehen.“ An die frisch gegründete Rückkehrerinitiative „Heimvorteil Hochsauerlandkreis“ schickt die Pressereferentin einen Steckbrief, der an Firmen im Landkreis weitergereicht wird. Doch es kommt anders. Nachdem die einstige Projektleiterin die Rückkehrerinitiative verlässt, nimmt Gottfried das Angebot wahr, selbst dem Projekt vorzustehen. „Heimvorteil Hochsauerlandkreis“ unterstützt Rückkehrende über sein Karrierenetzwerk und veranstaltet regelmäßige Stammtische. Das Projekt wird im Rahmen des Modellvorhabens „Land(auf)schwung“ durch Mittel des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft gefördert.
In Finsterwalde tauschen sich nun die Leiterinnen der Rückkehrerinitiativen aus Ost und West aus. Kennengelernt haben sie sich über Facebook, wo Auras-Lehmann auf das Projekt im Hochsauerland aufmerksam geworden ist. Nun wollen sie von den Erfahrungen der jeweils anderen profitieren. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es gibt und was man voneinander lernen kann. Im Frühling kommenden Jahres steht der Gegenbesuch an. Stephanie Auras-Lehmann reist dann in den Hochsauerlandkreis zu Karin Gottfried.