An einem Gymnasium im thüringischen Gerstungen lernen nach der ‘Wende’ auch viele hessischen Schüler*innen. Doch gerade deshalb wird es fast geschlossen.
Schule der Deutschen Einheit – in großen schwarz-rot-goldenen Buchstaben steht der Beiname des Philipp-Melanchthon-Gymnasiums, der auch ohne diese Darstellung schon pathetisch wäre, an der Fassade der Schule. Die Buchstaben beißen sich etwas mit dem weißen und blauen Putz des länglichen Gebäudes, dem anzusehen ist, dass es in den letzten 30 Jahren Schritt für Schritt zum Schulhaus gemacht wurde.
Gerstungen, gelegen im Westen von Thüringen, ist ein Ort ohne herausragende Eigenschaften. In der Chronik der Stadt wird als bemerkenswert notiert, dass der russische Zar im November 1910 einmal im Zug an dem Ort vorbei gefahren ist. Auch heute fahren Fernzüge durch Gerstungen, die Gleise verlaufen fast direkt neben dem Schulgelände. Auch heute halten die ICEs, die auf ihnen fahren, in Gerstungen nicht.
Eine Mann-beißt-Hund-Geschichte
Erst 2009, also 20 Jahre nach dem Mauerfall, gab sich das Gymnasium in Grenznähe den Beinamen „Schule der Einheit“. Schüler*innen aus Thüringen und aus Hessen, aus „Ost-“ und „Westdeutschland“, gehen hier gemeinsam zur Schule. Gerade dieser Umstand war es, der 2005 beinahe zur Schließung der Schule geführt hätte. Die Richtung, in der ihre Geschichte verläuft, ist entgegengesetzt zu der vieler Erzählungen zwischen Ost und West: Menschen, zumal junge, kommen aus dem Westen in den Osten: Es ist eine Mann-beißt-Hund-Geschichte.
„Hin und wieder wurde mit Kategorien wie Ossi und Wessi, und damit verbundenen Unterscheidungen oder Klischees, kokettiert“, sagt Björn Becker aus Bebra über die Schule, die er als einer der hessischen Schüler zwischen 2000 bis 2008 besucht hat. Ab 2005, also in der Zeit, in der die Debatte um eine mögliche Schließung aufkam, war er Schülersprecher. „Aber je länger man gemeinsam zur Schule ging, desto weniger spielte das eine Rolle.“
Björns Schwester Stella Becker kam vier Jahre nach ihrem Bruder an die Schule. Auch sie erinnert sich daran, dass in „pubertierenden Sticheleien“ auch auf den Ost-West-Status von Personen Bezug genommen wurde. „Aber eine ernsthafte Trennung gab es da nicht. Schon, weil sich auch viele Partnerschaften entwickelt haben zwischen Leuten aus Dörfern auf der einen und anderen Seite.“ Eine davon ist auch die (immer noch bestehende) Beziehung zwischen ihrem Bruder Björn und seiner Freundin Diana Köberlein. Auch sie sagt: „Wenn man sich die Kontakte zwischen einander angesehen hat, zeigte sich da keine Trennung zwischen Ost und West. Woher jemand kam, war da ziemlich egal.“
Stasi-Altlasten
Das Gebäude, in dem das Gymnasium 1991 eröffnet wurde, gehörte vor der Wende den Grenzbehörden der DDR. Die „Passkontrolleinheit“ des Ministeriums für Staatssicherheit war in dem grauen, länglichen, zweistöckigen Gebäude untergebracht. „Baulich war das gar nicht so schlecht“, sagt Gerald Taubert. Er leitet seit 2003 die Schule und gehörte fast seit Beginn ihres Bestehens zum Kollegium.
Eine aufwendige Abhöranlage für Telefongespräche zwischen DDR und Bundesrepublik installierte das MfS vor der Wende in dem Gebäude. „Hier in der Ecke vor dem Eingang“, erinnert sich Wilfried Rösing vom Gerstunger Heimatverein, „lag, als die Stasi ausgezogen ist, die ganze Technik, die sie zum Schnüffeln benötigt hat.“ In den Räumen wurden später Toiletten eingebaut.
Interesse aus Hessen
Für das 1991 in Gerstungen gegründete Gymnasium interessierte man sich schon bald auch jenseits der Landesgrenze. 1992 kam der erste Schüler aus Hessen an die Schule. Ihm folgten viele weitere, bis im Jahr 2000 fast die Hälfte der etwa 120 neuen Schüler*innen des Gymnasiums aus Hessen zur Schule nach Thüringen pendelten.
Die Gründe für den Andrang aus dem Nachbarbundesland waren dabei zunächst pragmatisch: „Es gab bei uns im Kreis kein reines Gymnasium, sondern nur Gesamtschulen mit gymnasialer Eingangsklasse, weil das politisch so gewollt war“, erklärt Björn Becker. Das Philipp-Melanchthon-Gymnasium in direkter Grenznähe machte dieses Angebot: „Da fuhr man 20 Minuten mit dem Zug hin, also quasi ohne Mehraufwand“, so Becker. „Meine Eltern fanden es aber durchaus auch schön, überhaupt die Option zu haben, ihre Kinder zur Schule in den Osten zu schicken.“ Schließlich hatte die Teilung auch in den westdeutschen „Zonenrandgebieten“ Möglichkeiten limitiert.
Doch der grenzübergreifende Schulbesuch sorgte nicht überall für Freude. Einigen Kommunalpolitiker*innen war die Schule ein Dorn im Auge. 2005 wurde über eine geplante Schließung der Schule gestritten. Wenn er über diese Diskussionen spricht, wählt Schulleiter Gerald Taubert auch mehr als zehn Jahre später noch deutliche Worte: „Es gab da sehr dümmliches, niveauloses Denken“, von „zweitklassigen Kreispolitikern.“
Protest und Ignoranz
Taubert meint damit das Argument, Thüringen habe mit dem Betrieb der Schule mit vielen hessischen Schüler*innen die Aufgaben des Nachbarlandes finanziert. Das sei schon deshalb Unsinn, sagt Taubert, weil etwa gleichzeitig viele junge Menschen aus Thüringen in Hessen Berufsschulen besucht hätten.
Einer der Befürworter der Schließung im Kreistag war Helmut Rackwitz. Er leitete damals eine Regelschule direkt gegenüber des Gymnasiums in Gerstungen. Zu der Debatte um die potentielle Schließung des Gymnasiums möchte er heute nichts mehr sagen. „Das ist eine Angelegenheit des Kreistages, und zu lange her.“ Mit dem Fortbestehen des Gymnasiums könne er aber mittlerweile gut leben.
Im Umfeld der Schule entwickelte sich bald ein lautstarker Protest gegen die mögliche Schulschließung. Nachdem lokale Medien von den Schließungsplänen berichteten, sei „sofort das ganze Gebiet hier rebellisch gewesen“, sagt Schulleiter Taubert. Auch die Schüler selbst initiieren Protestaktionen für den Erhalt des Gymnasiums: In der Kampagne stellte die Schule ihren symbolischen Wert in den Mittelpunkt. Bei einer der Aktionen im Vorfeld der Entscheidung im Kreistag bauten Schüler*innen etwa sinnbildlich die Mauer wieder auf.
Diana Köberlein erinnert sich an die Debatte um deren Schließung und das Unverständnis über diesen Vorschlag: “Bei den Aktionen stand der Einheits-Gedanke immer im Vordergrund. Und wir haben eigentlich dann erst gemerkt, wie besonders die Situation der Schule ist. Aber trotzdem ging es uns zuerst schlicht darum, dass unsere Schule geschlossen werden sollte. Sie ‘Schule der Einheit’ zu nennen war ein guter Slogan – aber eben auch einer, der zutreffend und nicht aus der Luft gegriffen war.“
Der Kreistag des Wartburgkreises stimmte schließlich nach monatelanger Debatte gegen die Schließung der Schule, mit nur einer Gegenstimme im Plenum. „Die zuständige Schuldezernentin sagte in der Sitzung, in der darüber abgestimmt wurde, dass das Gymnasium aus politischen Gründen nicht geschlossen werden könne – was auch immer das heißt“, erinnert sich Björn Becker, der bei der Entscheidung vor Ort war. „Die Regionalpolitiker, die das Konzept zur Schließung der Schule vertreten haben, reagierten sehr trotzig und ignorant auf unsere Argumente, in denen wir die symbolische, politische und soziale Bedeutung der Schule hervorgehoben haben.“
Arrangieren mit Kompromissen
Obwohl das Gymnasium weiter existierte, zogen die neuen Regelungen der Schulbehörden Einschnitte für den Bildungs-Grenzverkehr nach sich. Die Zahl der Schüler*innen, die das Gymnasium in jedem Schuljahr aufnehmen konnte, wurde auf 90 begrenzt. Dabei wird thüringischen Kindern Vorrang eingeräumt. Gibt es dann noch mehr hessische Anmeldungen als Plätze, wird ein Losverfahren angewandt. 2006 kam es dazu: 29 Kinder aus Hessen mussten auf diese Weise abgelehnt werden: „Das hat unserem Image sehr geschadet“, klagt Schulleiter Taubert, „denn das war eben keine pädagogische oder leistungsbezogene Auswahl.“ So sei die Zahl der Anfragen in den folgenden Jahren gesunken. Inzwischen liege sie konstant knapp unter der Kapazitätsgrenze, der Anteil daran aus Hessen etwa bei einem Drittel.
Über eine Schließung der Schule redet aber heute keiner mehr. Und auch den selbst gewählten Titel „Schule der deutschen Einheit“ stellt in Gerstungen niemand in Frage, obwohl und vielleicht auch weil die Vereinigungsgeschichte der Schule keine ohne Verwerfungen ist.