Hubert Wicker hat im Osten Karriere gemacht. Nach der Wende verließ er seine Stelle als stellvertretender Abteilungsleiter im baden-württembergischen Innenministerium und zog nach Dresden. Im sächsischen Innenministerium arbeitete er fünfeinhalb Jahre lang als Staatssekretär. Was bedeutete der Wechsel für den Baden-Württemberger damals und heute? Wir haben den 71-Jährigen in Stuttgart getroffen.
Herr Wicker, waren Sie vor dem Mauerfall schon einmal in Ostdeutschland?
Hubert Wicker: Ein paar Mal war ich damals im Rahmen von Studienreisen in Ostberlin. Aber ich habe dort keine Verwandten, meine Familie kommt von der schwäbischen Alb. Um ehrlich zu sein, hat uns das eigentlich auch nicht so sehr interessiert. Schließlich haben wir ohnehin gedacht, dass wir nicht mehr zusammenkommen.
Aber dann kam alles anders. Nach der Vereinigung wurden Sie Staatssekretär im sächsischen Innenministerium.
Genau, im Sommer 1991 wurde ich gefragt, ob ich bereit wäre, rüber zu gehen. In der Hierarchie bin ich dadurch zwei Stufen höher gerückt – natürlich auch ein reizvoller Punkt. Ich war immer skeptisch, wenn sich Leute aus Westdeutschland bei mir beworben haben und nur von Idealismus sprachen – das klang unwahrhaftig. Außerdem war meine Tätigkeit in Dresden auch zehnmal spannender als in Stuttgart. Und es gab mehr Arbeit als hier (lacht). Ich habe einfach gemerkt: Das ist jetzt eine historische Stunde und bei diesem Prozess will ich dabei sein. Ich habe gedacht: Ich riskiere es.
Eine Herkulesaufgabe war es, die Polizei zu demokratisieren .
Welche Aufgaben hatten Sie als Staatssekretär?
Die erste Aufgabe war der Aufbau des Ministeriums. Es war notwendig, mehrheitlich Beamte aus dem Westen unter einen Hut zu bekommen. Es gab aber auch zwei Gruppen von Einheimischen, die sich nicht ganz grün waren. Die eine war Träger des alten Systems, die andere fühlte sich dem Widerstand zugehörig. Das alles zusammenzufassen, war nicht ganz einfach. Eine Herkulesaufgabe war es, die Polizei zu demokratisieren und einen anderen Spirit hineinzubekommen, als es noch bei der Volkspolizei der Fall war. Auch die Einführung der Gebietsreform war nicht leicht, damals haben wir die Zahl der Landkreise fast um die Hälfte reduziert. 22 Städte verloren in dieser Zeit das Landratsamt. Das war ein Verlust an Prestige und Arbeitsplätzen. Es mussten Entscheidungen fallen, die hart waren.
Sind Sie auf Widerstand gestoßen?
Zum einen gab es Diskussionen, da wurde mir entgegen gehalten, dass ich etwas nicht verstehe, weil ich Wessi bin. Und das hat man bei mir man aufgrund meiner Sprache immer sofort erkannt. Ich habe einen ostdeutschen Geografen für die Kreisgebietsreform eingestellt, der reines Sächsisch gesprochen hat. Ich fand es besser, dass er im breiten Sächsisch einem Bürgermeister erklärt, dass er die Eigenständigkeit verliert, als wenn ich das im breiten Schwäbisch mache. Zum anderen wurden die Westdeutschen nach dem Mauerfall manchmal mit einer zu großen Euphorie begrüßt, weil man dachte, dass jetzt die großen Heilsbringer kommen.
Die 40 Jahre DDR haben das Land und zum Teil auch die Menschen zerstört.
Hätte man rückblickend etwas anders machen müssen?
Man muss sagen, Westdeutschland war auf die Wiedervereinigung nicht vorbereitet. Auf der anderen Seite gab es den starken Wunsch, dass in Ostdeutschland wieder fünf Länder, die es so in etwa einmal gab, entstehen. Hätte man in größeren Räumen geplant, bräuchte man weniger Verwaltungen, Ministerpräsidenten und so weiter. Aber das wäre nicht durchsetzbar gewesen. Es wäre auch nicht akzeptiert worden, wenn wir gesagt hätten: Wir schieben die deutsche Einheit fünf Jahre hinaus. Die DM wurde zum 1. Juli 1990 eingeführt, bevor die Einheit überhaupt da war. Die Leute haben gesagt, entweder kommt die DM zu uns oder wir kommen zu euch. Und an der Freizügigkeit hätte man ja nichts ändern können.
Wie viele Westdeutsche und wie viele Ostdeutsche haben im Innenministerium in Sachsen gearbeitet?
Etwa ein Drittel bis ein Viertel der Mitarbeiter waren Westdeutsche. Aber man muss schon sagen: Je höher es ging, desto mehr Leute waren aus Westdeutschland vertreten.
Noch heute beträgt der Anteil von Ostdeutschen in Führungspositionen in Ostdeutschland laut einer Studie der Universität Leipzig etwa 23 Prozent, in ganz Deutschland sind es lediglich 1,7 Prozent. Für Sie – und viele andere Westdeutsche – bedeutete der Wechsel nach Dresden indes einen Karrieresprung.
Natürlich ist das problematisch, keine Frage. In Ostdeutschland galten ab dem 3. Oktober 1990 westdeutsche Gesetze und die Marktwirtschaft. Deswegen war es unumgänglich, dass relativ viele der führenden Positionen von Westdeutschen besetzt wurden. Die 40 Jahre DDR haben das Land und zum Teil auch die Menschen zerstört. Manche wollen auch keine Verantwortung übernehmen, schließlich muss man dann auch für die Entscheidungen geradestehen. Es ist mit Sicherheit ein Nachteil, dass noch heute viele Führungskräfte in Ostdeutschland Westdeutsche sind und es ist ein Nachteil, dass kein großes Unternehmen seinen Sitz in Ostdeutschland hat. Ich sehe das mit großer Sorge. Ich dachte damals schon, dass es länger als eine Generation dauert, bis man zusammengewachsen ist; aber jetzt habe ich eher den Eindruck, dass es wieder mehr auseinander geht. Hier können wir die AfD ignorieren, aber in Ostdeutschland können wir das nicht.