Henryk Müller fühlte sich vom DDR-Regime bevormundet. Mit 22 Jahren beschloss er zu fliehen. Ein Ausflug ins ehemalige Grenzgebiet, wo Wald über die Geschichte wächst.
„Hier irgendwo muss das gewesen sein“, sagt Henryk Müller. Der kleine, kräftige Mann steht auf einer großen Wiese, ringsherum dichter Nadelwald. „Hier irgendwo muss das gewesen sein“, diesen Satz wiederholt der 53-Jährige oft an diesem sonnigen Nachmittag im September. Er sucht am Waldrand und im Gebüsch, fährt mit seinem Geländewagen über schmale Wege, hält mehrfach an, steigt aus. Hier, irgendwo im Grenzgebiet zwischen Thüringen und Bayern, erlebte Müller am 10. Januar 1989 die gefährlichsten Stunden seines Lebens. Doch die Landschaft hat sich in mehr als 30 Jahren stark verändert. Der Jungwald versteckt die Vergangenheit. Und Müller sucht.
Er wächst in der DDR auf, im beschaulichen Rudolstadt in Thüringen. Mit seinen Freunden baut Henryk Baumhäuser, seine Eltern lassen ihm alle Freiheiten. „Ich hatte eine herrliche Kindheit“, sagt er heute. Auch seine Jugend sei „eigentlich schön“ gewesen. Doch mit der Zeit reibt Henryk sich am DDR-System, sein FDJ-Hemd trägt er nur widerwillig. Stolz ist der junge Mann auf seine Jeans, die ihm Brieffreund*innen der Familie aus Süddeutschland schicken. Nach dem Realschulabschluss macht er eine Ausbildung als Bauverarbeiter – und fühlt sich zunehmend eingeengt vom Staat.
Eine leichtsinnige Entscheidung
„Wenn du etwas nicht darfst, beißt du dich daran fest“, erklärt er. Henryk will mehr dürfen, nicht nur in Ungarn und in der Tschechoslowakei Urlaub machen. 1986 und 1987, mit Anfang 20, stellt er mehrere Ausreiseanträge. Alle werden abgelehnt. Aus Verzweiflung betritt er zusammen mit seinem Schwager Jens die Botschaft der BRD in Ost-Berlin. Sie betteln darum, ausreisen zu können. Die Botschaftsmitarbeiter*innen schicken die jungen Männer nach draußen, wo die Polizei bereits wartet und sie vorläufig festnimmt. Henryk erkennt: „Das bringt alles nichts.“
Mit seinem Schwager ärgert er sich „über das Scheiß-Regime“, über die staatliche Bevormundung. Sie stacheln sich gegenseitig an, wollen nicht mehr in der DDR leben. Lange Zeit reden die beiden nur. Dann muss Henryk zur Musterung. Er befürchtet, im Gefängnis zu landen, wenn er den Wehrdienst verweigert, und beschließt zu fliehen.
Das sei schon leichtsinnig gewesen, sagt Müller heute. „Aber ich hatte nichts zu verlieren.“ Der 53-Jährige spaziert von der Wiese, geht vorbei an mehreren Hochsitzen, hinein in den Wald. „Das war damals alles freigeschnitten, da konnte man richtig weit sehen“, erzählt er. Jetzt sieht man nur Bäume und eine kaputte grüne Gießkanne aus Plastik, die verlassen auf dem Waldboden steht.
Die beiden DDR-Bürger schmieden Fluchtpläne. Erst überlegen sie, sich in einem Hackschnitzel-Transporter zu verstecken, der nach Österreich fährt. Aber das scheint ihnen zu riskant: An der Grenze könnten sie von den Stäben getroffen werden, mit denen die Kontrolleure die Ladung abtasten. Die zwei verwerfen die Idee und entwickeln eine neue. Mit so wenig Material wie möglich wollen sie über den Grenzzaun gelangen. Zwei Stricke und einen Bolzenschneider, mehr wollen sie nicht mitnehmen.
Ihre Flucht proben die Männer heimlich in einer Scheune, klettern über Wochen immer und immer wieder die Stricke hinauf. Müllers Schwester und seine Mutter sind in die Pläne eingeweiht. Die Mutter versucht, ihm die Flucht auszureden. Vergeblich.
Mit Bauchschmerzen durch den Nebel
Gemeinsam mit seinem Schwager bricht Henryk am 10. Januar 1989 früh morgens auf. Sie schlüpfen in Armeeuniformen, die Jens besorgt hat, und fahren in die Grenzstadt Sonneberg. Ihren Trabi stellen die beiden gegen vier Uhr vor der örtlichen Kaserne ab. Dann verlassen sie zu Fuß die Stadt und betreten das Sperrgebiet vor der Grenze. Es ist neblig und kalt, auf der Suche nach dem ersten Grenzzaun irren sie stundenlang durch den Wald – voller Angst, entdeckt zu werden. Er habe unglaubliche Bauchschmerzen gehabt, erzählt Müller: „Als müsste ich jeden Moment kotzen.“
September 2019. Wieder sucht Henryk Müller den Zaun. Nur trägt er diesmal keine Uniform, sondern kurze Hosen und Sonnenbrille. Statt der ehemaligen Grenze findet er wilde Brombeersträucher. Der 53-Jährige pflückt die Beeren einzeln, sammelt sie in der rechten Hand, isst eine nach der anderen unter blauem Himmel. „Schöne Ecke“, sagt er. Und: „Das muss hier irgendwo gewesen sein.“
Ich hatte große Angst, dass jemand auf mich schießt.
Gegen elf Uhr erreichen die jungen Männer auf ihrer Flucht den ersten Signalzaun. Sie verstecken sich hinter Büschen, überlegen, wie sie nun vorgehen sollen. Schnell ist klar: Mit den Stricken kommen sie nicht über den Zaun. Der 22-jährige Henryk fürchtet sich, er will umkehren. Doch Jens überzeugt ihn, zu bleiben. Dann haben sie eine neue Idee.
Mit dem Bolzenschneider lösen die Männer eine etwa sechs Meter hohe Holzleiter von einem nahegelegenen Hochsitz, die sie zum Zaun schleppen. „Die war sauschwer“, erinnert sich Müller. Mit aller Kraft stellen sie die Leiter senkrecht auf und lassen sie in den Zaun fallen. Sie sind sich sicher, dass sie damit einen Alarm ausgelöst haben. Schnell klettern Henryk und Jens die Leiter nach oben und lassen sich auf der anderen Seite auf den Boden hinab. „Ich hatte große Angst, dass jemand auf mich schießt“, sagt Müller heute.
Henryk und Jens erreichen eine Hügelkuppe, spurten übers freie Feld. Dann kommen die Flüchtigen an eine Panzerstraße. Unten in der Senke liegt der Grenzort Heinersdorf, dort sind Grenztruppen stationiert. Die jungen Männer beobachten, wie Soldaten in mehrere Lkw steigen und ausrücken. Henryk und Jens verstecken sich in einer Kuhle, warten leise ab, was passiert. Der Grenztrupp fährt auf die beiden zu – und an ihnen vorbei. „Wenn die uns gesehen hätten, wäre für uns Schicht im Schacht gewesen.“
In Heinersdorf steht bis heute ein Stück Mauer. Auch die Panzerstraße gibt es noch. Henryk Müller fährt sie mit dem Geländewagen entlang, es geht steil bergauf. Oben auf dem Hügel endet der Belag, mit Allradantrieb fährt Müller auf dem von Löchern durchzogenen Waldweg weiter, sein Schlüsselbund klappert rhythmisch gegen das Armaturenbrett. Müller sagt: „Das hätte ich auch nicht gedacht, dass ich hier mal mit dem Auto fahre.“
Die jungen Männer verharren noch für kurze Zeit in ihrem Versteck, dann rennen sie weiter. Zwei kleinere Zäune trennen sie von der Freiheit. Diesmal brauchen sie keine Leiter, sondern können einfach über die Zäune klettern. „Da waren die blau-weißen Pfähle zu sehen“, erinnert sich Müller. Die Grenzmarkierungen der Bundesrepublik. Gleich dahinter: ein Polizeiauto. „Die standen da, als hätten wir sie bestellt“, sagt der 53-Jährige über die Polizisten. Schnell steigen die Geflüchteten ins Auto, die Polizisten bringen sie in Sicherheit. „Wir hatten richtig Schwein.“
Von Thüringen ins Schwabenland
Es geht nach Ludwigsstadt, in die Bahnhofsmission. Henryk und Jens übernachten dort, erhalten neue Kleidung. Am nächsten Tag erzählen sie ihre Fluchtgeschichte auf dem Polizeirevier. Auch die lokale Presse kommt – für einen Zeitungsartikel erhalten sie 20 Mark. „Das war mein erstes Westgeld“, erzählt Müller und lacht. Die beiden kommen bei Jens’ Onkel in Gifhorn unter. Sechs Tage nach der Flucht fängt Henryk an zu arbeiten – auf dem Bau.
Überall Werbung und moderne Autos – im Westen findet er alles „schicker und angenehmer“. Nur das niedersächsische Flachland ödet ihn an. Henryk erinnert sich an die Brieffreundschaft seiner Angehörigen, telefoniert mit der Familie Stettner im schwäbischen Gschwend. Kurz darauf fährt er nach Baden-Württemberg.
Die Stettners freuen sich über seinen Besuch, mit Sohn Matthias freundet er sich schnell an. Die Wälder, Hügel und Wiesen auf der schwäbischen Ostalb gefallen dem Geflüchteten gut. „Kann ich hier nicht irgendwo unterkommen?“, fragt Henryk nach einiger Zeit. Er kann, die Stettners haben ein Zimmer frei. Im Schwabenland arbeitet er erst als Maurer, später als Lkw-Fahrer. Henryk fühlt sich heimisch, als freier Mensch mit gleichen Rechten. „Nur schwäbisch schwätza hen i nie glernt“, sagt er und lacht.
Zehn Monate nach Henryks Flucht fällt die Mauer. Er ist überwältigt, freut sich, dass er seine Familie wiedersehen kann. Doch er sagt auch: „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich natürlich nie mein Leben riskiert.“ Im Frühjahr 1990 besucht der junge Mann seine Familie. 1993 lernt er bei einem Heimatbesuch seine spätere Frau kennen, kurz darauf zieht er zurück nach Thüringen.
Die Schauplätze seiner Flucht besucht Henryk Müller nur selten, seine Geschichte will er nicht an die große Glocke hängen. „Das ist doch eine alte Kamelle“, meint er. Er sucht noch ein bisschen nach Anzeichen des ehemaligen Grenzverlaufs, verfährt sich mit dem Geländewagen im Wald. Irgendwo hier muss es gewesen sein. Irgendwo hier. Am späten Nachmittag fährt Henryk Müller nach Hause. Den Zaun – oder was davon übrig ist – hat er nicht gefunden. „An eine Grenze erinnert hier nichts“, sagt er. Da ist nur ein schönes Fleckchen Natur.